railaxed - WINTER 2022

wahrscheinlich nicht mehr so mutig. Oder doch? Immerhin: Ich habe meine kleine Gruselgeschichte zur Einstimmung auf das aktuelle Abenteuer erzählt – denn auch 2022 geht es für mich unter die Erde. On Tour mit TikTok-Jerry An meiner Seite befindet sich der Shooting- Star der Underground-Szene – Führungen durch die alten Keller, Katakomben und Stollen der Stadt werden in der Hauptstadt gerne und oft angeboten. Aber Jeremy „Jerry“ Plaidl ist anders als seine Kolleg:innenschaft. 27 Jahre jung, hip und bekannt durch eine stattliche Anzahl von internationalen Medien- berichten sowie tausende Fans auf der Social-Media Plattform „TikTok“. Noch bevor wir uns am Wiener Hauptbahnhof ordentlich begrüßen können, entdeckt ihn eine Gruppe Jugendlicher. Selfies werden geschossen und Hände geschüttelt. Ein „Unterwelter“, der also abheben könnte. Tut er aber nicht. Was vielleicht auch an seinem Brotberuf liegt. Jerry ist Lokführer bei den ÖBB – eine Passion, die mit einem Tattoo auf seinem Unterarm verewigt wurde. Seine zweite Leidenschaft prangt an einer anderen Körperstelle – und zwar am verlängerten Rücken. „Eng, feucht und dreckig“, steht da – Jerrys Lebensphilo- sophie und der Name, unter dem er seine Touren nun auch der Öffentlichkeit anbietet. Die Stadt unter der Stadt Doch bevor ich mit ihm in die Eingeweide von Wien absteige, möchte ich sie gebührend vorstellen. Der erste Bezirk ist von einem dichten Netz aus Bauten unterkellert, die sich im Untergrund verbergen – oft geht es bis zu 15 Meter in die Tiefe hinab. Kaum eine andere Stadt verfügt über ein derart dichtes Netz aus Tunneln, Kellern und Gewölben. Die ältesten Relikte stammen aus der Römerzeit, die populärsten aus jener der Habsburger. Die schaurig-schöne Kapuzinergruft etwa sollte man sich nicht entgehen lassen. Hier ruhen die Habsburger Kaiser:innen samt ihren Familienangehörigen. Mehr als 150 pracht- volle Gräber aus 400 Jahren Geschichte des einst gigantischen Reichs kann man bestaunen. Auch die Katakomben unter dem Stephansdom, die Virgilkapelle und die Michaelergruft mit ihren berühmten Mumien faszinieren Interessierte aus dem In- und Ausland gleichermaßen. Weniger glamourös, aber ebenso packend: Stattliche 2.500 Kilometer ist das Wiener Kanalnetz lang und bis zu 25 Meter tief. Jeden Tag wird eine halbe Milliarde Liter Abwasser durch das unterirdische Labyrinth in die Hauptkläranlage nach Simmering, an den tiefst gelegenen Punkt der Stadt, weitergeleitet. Heute ein Arbeitsplatz für hunderte Menschen, Drehort für Kult-Filme wie „Der dritte Mann“, Lebensader für die Infrastruktur und Lebensraum wilder Tiere. Früher? Ein Zufluchtsort für die Ärmsten der Armen. Ende des 19. Jahrhunderts hausten hier hunderte Obdach- und Arbeitslose, die sich mit dem „Strotten“, dem Herausfischen von Münzen und Metallresten aus den Abwässern, sprichwörtlich über Wasser hielten. Später befanden sich auch Schmugglerhöhlen und Schleichwege für Spione im Untergrund, der Zweite Weltkrieg und die Bombardierung von 1944 zogen dann auch die Kanalisation stark in Mit- leidenschaft. Die Bevölkerung versteckte sich – nicht nur in Bunkern, sondern auch in den vielen Luftschutzkellern unter den Straßen Wiens. Und denen widmet Jerry nun den Großteil seiner Aufmerksamkeit. Zuflucht unter der Uni Einer davon befindet sich unter dem „MUK“, einer privaten Musik- und Kunstuniversität für Musik, Tanz, Schauspiel und Gesang im ersten Bezirk. Unter dem Konservatorium Wien am Standort Bräunerstraße verbergen sich zweigeschoßige Pfeilerhallen aus der Zeit der Renaissance, die während des Krieges Schutz und Zuflucht, aber wenig Komfort boten. „Urban Exploring“ ist umkämpftes Terrain, die weiteren Koordi­ naten seiner sorgfältig durchrecherchierten Underground-Spots hält Jerry offiziell unter Verschluss – wenn, dann sollte man nicht allein, sondern mit einem Profi auf Ent- deckungstour gehen. Aus Respekt vor der Janina Lebiszczak ist Journalistin, Kolumnistin und Autorin aus Wien. Sie schreibt über die Kunst, das Leben zu genießen, Grenzen zu überwinden und den Horizont mit allen Sinnen zu erweitern. Wien von unten Krypt Bar 100 Tief unter den Straßen des Alsergrunds befindet sich eine schicke Cocktailbar in einem alten Kellergewölbe. Infos: krypt.bar Der 3. Mann Leider erst ab Mai 2023, aber nach langer Pause endlich wieder geöffnet: die legendäre Tour durch die Wiener Kanalisation. Infos: drittemanntour.at Virgilkapelle Geheimtipp abseits von Kaisergruft & Kata- komben. Um 1220 erbaut, 1973 entdeckt und nun vom „Wien Museum“ betreut. Infos: wienmuseum.at /de/standorte/ virgilkapelle Geheimnisvoll: Unter einer Privat­ uni befinden sich zweigeschoßige Pfeilerhallen aus der Renaissance, die später Zuflucht boten. Los geht’s: Am Wiener Haupt- bahnhof präsen- tiert mir Jerry unsere Tour. Für einen kurzen Moment fehlt mir jeglicher Mut. © Illustration: Blagovesta Bakardjieva, carolineseidler.com 14 15 railaxed Winter 2022

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